Überraschungseffekte beim „Literarischen Frühling“: Jan Wagner liest an ungewohntem Ort – Literarische Revue zum 50. Todestag des Dadaisten Richard Huelsenbeck
Mit originellen Lokalitäten wartet im nächsten Jahr der „Literarische Frühling in der Heimat der Brüder Grimm“ auf. Der bekannte Lyriker Jan Wagner stellt sein neuestes Buch nicht in einem Hotelsalon oder einer Kulturhalle vor, sondern mitten in der Backstube der Bäckerei Dirk Weber in Sachsenberg. Und in der Kellerwaldhalle von Frankenau steigt eine literarische Revue besonderer Art: es geht um das Leben und Schaffen des Schriftstellers Richard Huelsenbeck, der 1892 in Frankenau geboren ist und 1916 zu den Mitbegründern einer revolutionären künstlerischen Bewegung, des Dadaismus, gehörte. Anlass ist der 50. Jahrestag seines Todes. „Wir wollen mit diesen beiden Veranstaltungen bewusst die eingefahrenen Geleise des Kulturbetriebs verlassen“, erklärte Christiane Kohl, die Leiterin des Literaturfestivals. „Wir laden unsere Besucherinnen und Besucher ein, sich auf ganz neue Hör- und Seherlebnisse einzulassen.“
Jan Wagner ist einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart und hat als Gast beim „Literarischen Frühling“ schon einmal 2018 mit seiner Vortragskunst das Publikum fasziniert. Er geht in seinen Gedichten meist von alltäglichen Objekten und Eindrücken aus und versteht es meisterhaft, sie poetisch zu verwandeln. In seinem neuen Werk „Steine & Erden“, das er am Sonntag, dem 21. April, nachmittags um 15:00 Uhr, in der Bäckerei Weber in Sachsenberg vorstellen wird, schreibt er beispielsweise über Krähen, Kühe, Autoreifen, Kriegerdenkmäler oder Karotten. „Im Ambiente einer täglich voll genutzten Backstube entfaltet Jan Wagners Poesie auf doppelte Weise ihre ganz besondere Leuchtkraft“, erklärt Christiane Kohl. Der Autor selber schreibt in einer Mail zu dem Projekt: „Bäckereien sind herrliche Orte.“ Und der Sachsenberger Bäckermeister Dirk Weber, der für dieses Experiment seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, sagt: „Ich finde es schön, wenn man normale Arbeitsräume auch einmal für ganz andere Dinge öffnet, zum Beispiel künstlerische und musikalische Darbietungen. Und ich freue mich, wenn die Leute mal sehen, wie wir arbeiten.“ Dirk Webers Bäckerei gehört zu den mehr als zwei Dutzend Unternehmen und Institutionen aus der Region Waldeck-Frankenberg, die den „Literarischen Frühling“ unterstützen und dadurch erst möglich machen.
Große Freude äußerte auch der Frankenauer Bürgermeister Manuel Steiner über die Idee, den führenden Dadaisten Richard Huelsenbeck aus Anlass seines Todestages mit einer wilden Bühnen-Show in seinem Geburtsort zu würdigen. „Wir sind gespannt auf die Umsetzung und Darbietung“, erklärt Steiner. Huelsenbeck und sein Werk seien „mit der Geschichte unserer Stadt eng verbunden“. Der Künstler war am 23. April 1892 als Sohn des damaligen Frankenauer Apothekers zur Welt gekommen. Die Familie stammte aus Westfalen und ging bald auch wieder dorthin zurück, weil die Apotheke für den Lebensunterhalt nicht genug abwarf. Huelsenbeck erinnerte sich später, seine Eltern hätten Frankenau als „ein armes, gottvergessenes Nest“ empfunden, der Vater sei für die Medikamente von den Bauern mit Hühnern, Butter und Eiern bezahlt worden.
Richard Huelsenbeck studierte später Germanistik, Kunstgeschichte und Medizin und begann zu schreiben. Während des Ersten Weltkrieges ging er nach Zürich ins Exil und gehörte 1916 zu den sechs Dichtern und Malern, die dort im Cabaret Voltaire den Dadaismus begründeten. Mit provokanten Auftritten, zu denen Brüllen, Pfeifen, Trommeln sowie der Vortrag avantgardistischer Texte und Theaterszenen gehörten, schockierten sie das Publikum und verlangten eine moralische Erneuerung sowie die Abkehr vom Hurra-Patriotismus, der damals in vielen Ländern Europas grassierte.
Schon 2016 hatte der „Literarische Frühling“ aus Anlass des Jahrhundert-Jubiläums gemeinsam mit dem Frankfurter Aktions- und Theaterkünstler Michael Quast eine DADA-Revue produziert. Sie wurde damals in Metzen Altem Kuhstall in Ellershausen aufgeführt. „Der durchschlagende Erfolg und das riesige Vergnügen, das wir und unsere Zuschauer bei dieser Vorstellung empfunden haben, brachten uns schon damals zu dem Schluss, dass dies nicht das einzige Mal gewesen sein darf“, erklärt dazu die Festival-Leiterin Christiane Kohl. „Diesmal erweitern wir das Konzept und gehen nach Frankenau, an den Geburtsort Huelsenbecks. Es wird an diesem Abend kein Auge trocken bleiben, das können wir versprechen.“ Die Veranstaltung findet am Donnerstag, dem 25. April, um 19:00 Uhr in der Kellerwaldhalle in Frankenau statt. Sie ist geplant als großes Bühnen-Solo von Michael Quast mit Trommel, Vorschlaghammer und allerlei Tschingdarassabum.
Die Events in Frankenau und Sachsenberg reihen sich ein in ein Panorama von mehr als zwei Dutzend Veranstaltungen, die der „Literarische Frühling in der Heimat der Brüder Grimm“ im April nächsten Jahres anbietet. Das nordhessische Festival, das 2024 in seine zwölfte Saison geht, steht diesmal unter dem Motto „Denk‘ ich an Deutschland“ und befasst sich schwerpunktmäßig mit aktuellen und historischen Krisen und Befindlichkeiten. Unter den prominenten Autorinnen und Autoren, die für einen Auftritt gewonnen werden konnten, sind neben Jan Wagner und Michael Quast unter anderen auch Durs Grünbein, Terézia Mora, Anne Rabe, Rüdiger Safranski und Stephan Thome, „allesamt Schriftsteller, die zur ersten Garde der deutschen Gegenwartsliteratur zählen“, wie die Festival-Leiterin Christiane Kohl erklärt. Besondere Akzente setzen zudem der als „Tatort“-Kommissar bekannte Schauspieler Jörg Hartmann mit einem Erinnerungsbuch sowie der Autor Rafik Schami mit seinen orientalischen Erzählungen. Zudem ist Anlass, an Kafka, Kant und Goethe zu erinnern.
Nähere Einzelheiten zum Programm finden sich auf dieser Website. In der Abteilung „Spielplan“ können Sie auch gleich Ihre Tickets erwerben, ebenso bei den einschlägigen Vorverkaufsstellen. Wer zeitnah über aktuelle Veränderungen informiert werden möchte, kann über die Mail-Adresse kontakt@literarischer-fruehling.de kostenlos einen Newsletter abonnieren.
Das Festival wurde 2012 von drei Hotels im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg gegründet, dem Hotel Die Sonne Frankenberg, dem Hotel Schloss Waldeck und dem Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle in Ellershausen. Anlass war der 200. Jahrestag der Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die den Stoff für ihre weltberühmten Erzählungen in Nordhessen gesammelt hatten.
Freitag 19, April
18:00 Uhr – Hotel Schloss Waldeck
PREOPENING: „Besser allein als in schlechter Gesellschaft“ – mit Adriana Altaras (Lesedinner)
Samstag 20. April
19:00 Uhr – Metzen Alter Kuhstall Ellershausen
ERÖFFNUNG: „Der Komet“ – mit Durs Grünbein und Denis Scheck
Sonntag 21. April
11:00 Uhr – Restaurant „Philipp Soldan“ im Hotel Die Sonne Frankenberg
Küchenlesung mit Sam Michelson aus „Die Leiden des jungen Werther“ von J. W. Goethe (I)
11:30 Uhr – Schloss Friedrichstein Bad Wildungen
„Die Möglichkeit von Glück“ - mit Anne Rabe
15:00 Uhr – Bäckerei Weber in Sachsenber
„Steine & Erden“ – mit Jan Wagner
15:30 Uhr – Restaurant „Philipp Soldan“ im Hotel Die Sonne Frankenberg
Küchenlesung mit Sam Michelson aus „Die Leiden des jungen Werther“ von J. W. Goethe (II)
18:00 Uhr – Romantik Hotel Landhaus Bärenmühle
„Es riecht nach Pommes, Ilja kommt“ – mit Ilja Matusko (Lese-Dinner)
Montag 22. April
11:30 Uhr – Restaurant „Philipp Soldan“ im Hotel Die Sonne Frankenberg
Küchenlesung mit Sam Michelson aus „Die Leiden des jungen Werther“ von J. W. Goethe (III)
19:00 Uhr – Wandelhalle am Kurpark Bad Wildungen
„Kafka – Schreiben, um zu überleben“ – Mit Rüdiger Safranski
Donnerstag 25. April
19:00 Uhr – Kellerwaldhalle Frankenau
„Und DADA kam aus Frankenau“ – Bühnen-Show mit Michael Quast
Freitag 26. April
19:00 Uhr – Philipp-Soldan-Forum Frankenberg
„Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ – mit Rafik Schami
Samstag 27. April
16:00 Uhr – Landgut Walkemühle Frankenberg
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ – mit Terézia Mora
19:00 Uhr – Wandelhalle am Kurpark Bad Wildungen
„Der Lärm des Lebens“ – mit Jörg Hartmann
Sonntag 28. April
11:30 Uhr – Rittersaal Hotel Schloss Waldeck
„Kant – Die Revolution des Denkens“ – mit Marcus Willaschek
18:00 Uhr – Landhaus Bärenmühle Ellershausen
„Die Spiele“ – mit Stephan Thome (Lese-Dinner)
Literarischer Frühling 2023
Eine Galerie von Fotografie Eva-Maria Schmidt.
Terézia Mora © Antje Berghäuser
Durs Grünbein © Jürgen Bauer
Jörg Hartmann © Silvia Medina
Anne Rabe © Annette Hauschild
Rafik Schami © Arne Wesenberg
Rüdiger Safranski © Peter-Andreas Hassiepen
Adriana Altaras © Martin Walz
Marcus Willaschek © Jürgen Lecher, Goethe-Universität Frankfurt