Ihre Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ ist das meistgelesene Buch deutscher Herkunft in der Welt. Ihre Studien zur Geschichte der Wörter bildeten einen Grundstein der deutschen Philologie. Ihre Schriften und Reden gegen Kleinstaaterei und Kleingeisterei in Deutschland revolutionierten das Denken ihrer Zeit. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben deutsche Kulturgeschichte geschrieben – entsprechend verehrt, geschätzt und bewundert werden sie noch heute in aller Welt.
Ihre Wurzeln liegen hier, im nordhessischen Bergland. Nicht zu Unrecht wird die Region heute daher die Grimmheimat genannt. Denn in den geheimnisvollen Wäldern und verträumten Wiesen, den romantischen Altstädten und trutzigen Burgen sind noch immer die Spuren jener Welten zu finden, aus denen die Grimms dereinst ihre Märchen destillierten und die Kraft schöpften für ihre literarischen und programmatischen Werke. Eine Region, die sich bis heute ihre Ursprünglichkeit und Authentizität bewahrt hat.
Eben diese Landschaft bildet den Hintergrund für ein neues Literaturfestival in Deutschland: „Literarischer Frühling in der Heimat der Brüder Grimm“ lautet der Titel der Veranstaltung, die zum ersten Mal vom 24. März bis zum 1. April 2012 stattfand. Das Fest der Sprache und der Literatur bildete den Auftakt zum 200-jährigen Jubiläum der „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm. Mit Lesungen, Diskussionen, einem Schreib-Workshop und einer Kinder-Werkstatt sollten das vielseitige Werk und die Ideen der berühmten Forscher im Blickwinkel heutiger Zeiten gespiegelt werden. Als sich wenige Monate später, im Dezember 2012, die Herausgabe der Märchen zum 200. Mal jährte, begann das offizielle Grimm-Jubiläumsjahr grimm2013.
Die Initiative zu dem Festival geht auf drei führende Hotels zurück, die in der Region zwischen Kassel und Marburg beheimatet sind, unweit des nordhessischen Nationalparks Kellerwald, der wegen seiner ursprünglichen Natur zum Weltnaturerbe der Unesco gehört. Es sind das Hotel Schloss Waldeck, beheimatet in einer mittelalterlichen Burg hoch über dem Edersee mit Burgverlies und Rittersaal; das Hotel Die Sonne Frankenberg , ein Relais & Châteaux Hotel mit Wohlfühl-Spa, das stilvoll inmitten der historischen Altstadt von Frankenberg liegt; und schließlich das Landhaus Bärenmühle, romantisch eingebettet zwischen Wald und Wiesen wie einst das Knusperhäuschen von Hänsel und Gretel im Lengeltal bei Ellershausen.
An einem Sommertag im Jahr 2010 saßen Volker Deigendesch, Christiane Kohl und Michael Lemke als Vertreter der drei Hotels beisammen und loteten Möglichkeiten der Zusammenarbeit aus. Damals wurde die Idee des Literaturfestivals geboren. Hotels sind Orte der Begegnung, in der Geschichte boten sie immer wieder Stoff für große Weltliteratur und waren Schauplätze von Romanen und Theaterstücken – man nehme Thomas Manns „Tod in Venedig“, Vicki Baums „Menschen im Hotel“ oder Franz Kafkas „Amerika“. Hotels waren auch für viele Schriftsteller ein belieber Aufenthalt – warum sie also nicht als Ort nutzen, an dem Autoren ihre Werke vorstellen?
So setzten sich also die drei Hotels zum Ziel, ein hochwertiges Literaturfestival ins Leben zu rufen. Mit der prominent besetzten Kulturveranstaltung wollen sie die Aufmerksamkeit auf die Region lenken und so auch den Begriff der Grimmheimat mit kulturellem Leben füllen. Das Literatur-Fest soll Bücherfreunde und Interessierte von Nah und Fern anziehen und so eine bedeutende Strahlkraft entwickeln, sowohl regional als auch überregional. Damit stellt das Festival nicht nur eine kulturelle Initiative dar, es ist zugleich ein Stück aktive Standortpolitik für eine Region, die vom demografischen Wandel gekennzeichnet ist. Starke Partner aus der heimischen Wirtschaft unterstützen das Fest der Sprache und der Literatur, das ohne öffentliche Förderung auskommt. Es findet seit 2012 jährlich statt und ist zu einer festen Größe in der Region geworden.
Ideell und geografisch knüpft das Kulturereignis an das vielseitige Werk der Brüder Grimm an und spiegelt ihre Ideen im Blickwinkel heutiger Zeiten. Geboren in Hanau und aufgewachsen in Steinau in Südhessen, verbrachten die Grimms die längste Zeit ihres Lebens in Kassel und Umgebung. Mit ihren Märchen- und Sagensammlungen lieferten sie den Erzählstoff, der die Phantasie von Generationen von Kindern entzündete. Mit dem „Deutschen Wörterbuch“ und der „Deutschen Grammatik“ schrieben Wilhelm und Jacob Grimm epochale Werke, auch die „Deutsche Mythologie“ und die „Deutschen Rechtsalthertümer“ galten in ihrer Wirkung als bahnbrechend. Zudem waren die Brüder aktiv an den politischen Umbrüchen ihre Zeit beteiligt. So nahm Jacob Grimm in diplomatischer Mission 1814/15 am Wiener Kongress teil und wurde 1848 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, wo er als Einleitung für eine neue, gesamtdeutsche Verfassung den berühmten Satz vorschlug: „Alle Deutschen sind frei, deutscher Boden duldet keine Knechtschaft“.
Als die „modernsten Traditionalisten ihrer Zeit“ charakterisiert der Grimm-Biograf Steffen Martus die umtriebigen Brüder: Einerseits wandten sie sich konsequent der Vergangenheit zu, andererseits traten sie mutig für revolutionäre Neuerungen ein. In diesem Spannungsfeld soll ihr Werk nun den gedanklichen Rahmen bilden für ein Literaturfestival, das die vielfältigen Facetten ihres Wirkens aufnimmt, interpretiert und in die Moderne übersetzt. Ihre Ideen geben immer wieder neue Anstöße für die Lesungen, Debatten und Diskussionen wie auch für die vielen Gespräche am Rande. Frei nach dem Grimmschen Motto: „Alles fruchtbare Erkennen muss ein fortwachsendes sein.“
Das Festival gliedert sich in vier Module. Die Veranstaltungen – ob Lesungen, Diskussionen oder Lehrveranstaltungen - finden in den drei Hotels statt, und zwar an höchst unterschiedlichen Orten – vom Burgverlies bis zum Badezuber. Sie werden terminlich so aufeinander abgestimmt, dass ein Besucher nahezu alle Veranstaltungen des Festivals besuchen kann, mit Ausnahme des Workshops. Als vierte Spielstätte wurde 2014 erstmals das barocke Schloss Friedrichstein in Bad Wildungen einbezogen.
Das Festival will nach außen strahlen und mithelfen, die Identität der Region im Norden Hessens zu stärken. Entsprechend gibt es ein Leitmotiv, entwickelt aus einem Ausspruch der Brüder Grimm, dem sich letztendlich alle Module thematisch zuordnen :
„Wer seine Heimat liebt, muss sie auch verstehen wollen, wer sie verstehen will, muss überall in ihre Geschichte einzudringen suchen“.
Friedrich Christian Delius / © A. Bachinger
Autoren und Schauspieler lesen und diskutieren mit Moderatoren
Das Modul „Fest der Sprache“ bildet die Hauptattraktion des Festivals. Leitfiguren dieser Veranstaltungen sind prominente deutsche Persönlichkeiten, Autoren und Schauspieler – Meister der Sprache, deren Namen weit über die Region hinaus Strahlkraft haben. Hinzu kommen weitere Autoren. Die Lesungen werden belebt durch Diskussionen mit erfahrenen Journalisten.
Die Veranstaltungen finden jeweils in den drei Hotels und Schloss Friedrichstein statt und können – entsprechend dem jeweiligen Lese-Thema - an durchaus ungewöhnlichen Orten lokalisiert sein. So etwa im Stadtweinkeller des Hotels Die Sonne, im Rittersaal von Schloss Waldeck oder in der Kachelhofenhalle des Landhauses Bärenmühle.
Katerina Poladjan vor der Salon-Kutsche
Schauspieler rezitieren Klassiker in ungewöhnlichem Ambiente
Mit Heinrich Heine in einer Salon-Kutsche durch die Landschaft schaukeln, im Burgverlies Texten von Georg Büchner lauschen oder in der Gourmet-Sterne-Küche kulinarische Köstlichkeiten aus den Buddenbrooks serviert bekommen – die Reihe „Weltliteratur an authentischen Orten“ bietet besondere literarische Leckerbissen. Es sind Veranstaltungen mit begrenzter Teilnehmerzahl, da die Räumlichkeiten der ungewöhnlichen Leseorte zumeist eher klein sind.
Star-Autoren lesen auch für Schüler
Die prominenten Autoren des Festivals lesen und diskutieren nicht nur abends für Erwachsene. An einigen Vormittagen finden Pro-Bono-Veranstaltungen speziell für Schüler statt. So las die Bestseller-Autorin Thea Dorn („Die deutsche Seele“) schon für Kinder einer Frankenauer Grundschule ihre Lieblingsmärchen vor; der Grimm-Biograf Steffen Martus erklärte Frankenberger Gymnasiasten, was die Grimms in ihrer Schulzeit so trieben, der Suhrkamp-Autor Stephan Thome diskutierte mit Oberschülern über sein Lieblingsbuch „Der Fänger im Roggen“ von Salinger. Die Veranstaltungen aus der Reihe „Brüderchen und Schwesterchen“ finden großen Anklang bei den örtlichen Schulen.
Autoren Workshop mit John von Düffel
Autoren-Workshop mit einem „Writer in Residence“
Ein Dozent für Kreatives Schreiben, der selbst Schriftsteller ist, leitet einen dreitägigen Schreibworkshop mit einer Teilnehmerzahl von zehn bis zwölf Personen. Der Workshop findet im Landhaus Bärenmühle statt, wo auch der Dozent während dieser Zeit als „Writer in Residence“ logiert. Während des Workshops wird intensive Schreib-Arbeit geleistet, die Teilnehmer können von einer höchst professionellen Betreuung ausgehen. Als Dozenten wurden engagiert seit Gründung des Festivals:
2012 - John von Düffel
2013 - Bodo Kirchhoff
2014 - Josef Haslinger
2015 - Charles Lewinsky
2016 - Klaus Modick
Literatur-Werkstatt für Kinder
Ein pädagogisch geschulter Kinderbuchautor bzw. eine Autorin führt Kinder zwischen 8 und 11 Jahren spielerisch in die Methoden des Kreativen Schreibens ein. Workshop-Dauer: Etwa vier Stunden mit Pausen.